Bildkomposition mit Dynamischer Symmetrie und Gestalttheorie
Dieser Artikel ist Teil einer Serie, die Bildkomposition unter Nutzung der Dynamischen Symmetrie und der Gestalt-Theorie behandelt. Teilweise werden Kenntnisse aus den anderen Artikeln vorausgesetzt. Am besten ist es, alle Artikel der Serie zu lesen.
Die Bildkomposition ist ein wichtiger Bestandteil eines guten Fotos. Mit Hilfe der Dynamischen Symmetrie hat man dabei ein mächtiges Werkzeug zur Hand. Sie dient kurz gesagt zur harmonischen Aufteilung von Flächen und definiert für einen gegebenen Rahmen ein Netz aus Linien und Winkeln, die auch wiederum als harmonisch empfunden werden.
Sehen wir uns ein Beispiel an - hier ein Foto von Annie Leibovitz, mit einer Analyse von Tavis Leaf Glover:
Die Analyse zeigt ein Design aus drei zusammengesetzten sogenannten 1,5-Rechtecken.
Ein 1,5-Rechteck ist eines, dessen Seitenverhältnis der langen zur kurzen Seite
3:2 beträgt. Das bei Fotografen gängige Kleinbildformat entspricht auch diesem
Seitenverhältnis (36mm x 24mm).
Was Sie vielleicht erkennen können, ist die größere Gestaltungsfreiheit und
die viel weitergehenden Ausdrucksmöglichkeiten gegenüber der Drittelregel,
die in vielen Anleitungen zur Bildkomposition behandelt wird.
Wichtig: Die Dynamische Symmetrie ist nur ein Merkmal eines gut designten Bildes. Und auch wenn man die Dynamische Symmetrie anwendet, muss als Ergebnis nicht ein gutes Bild entstehen. Für ein gutes Bild braucht man mehr als nur die geeignete Platzierung der Subjekte im vorhandenen Rahmen. Aber die Dynamische Symmetrie hilft dem Künstler sehr dabei.
Warum schreibe ich über Bildkomposition?
Ich bin per Zufall (dazu später) über Dynamische Symmetrie und Gestalttheorie gestolpert und finde beide extrem interessant wenn es darum geht, seine Bilder ansprechend zu gestalten. Leider gibt es zumindest zur Dynamischen Symmetrie nur sehr wenige Quellen und die wenigsten dazu in deutscher Sprache. Bei der Gestalttheorie sieht es viel besser aus, dennoch ist der Bekanntheitsgrad bei Fotografen nicht sehr hoch. Ich möchte auf diese Weise helfen, die Lücke ein wenig zu schließen.
Wie bin ich auf Dynamische Symmetrie und Gestalttheorie gekommen?
Der Anlass, sich damit zu befassen, war ein Artikel der weltweit
in der Fotografen-Landschaft für einigen Wirbel gesorgt hat. Er
stammt von Tavis Leaf Glover
der “Zehn Mythen zur Drittel-Regel”
geschrieben hat. Der Artikel befasst sich mit zehn Behauptungen, die
die Drittel-Regel betreffen und zeigt die Alternativen auf,
die durch die Dynamische Symmetrie und die Gestalttheorie geboten werden.
Viele Gesichtspunkte dieser beiden Bereiche tauchen auch in anderen
Anleitungen zur Bildkomposition auf, allerdings meistens ohne einen
entsprechenden Kontext oder eine Einbindung in ein Gesamtkonzept.
Am ehesten ist das noch in Michael Freemans Buch
“The photographer’s eye”
gegeben, wo er öfter auf die Gestalttheorie Bezug nimmt.
Für einen ganz speziellen Rechteck-Typ entspricht die Drittel-Regel
übrigens auch dem Grundgerüst der Dynamischen Symmetrie: Im Fall des
Wurzel-2-Rechtecks (dazu später in einem anderen Artikel mehr) fallen
die Kreuzungspunkte der Drittel-Regel auf die Kreuzungspunkte der Diagonalen
und ihrer Umkehrungen.
Wurzel-2 Rechteck und Drittel-Regel
Im Bild können Sie die Diagonalen (schwarz), ihre Umkehrungen (blau) und die Aufteilung nach der Drittel-Regel (rot) sehen.
Was ist Dynamische Symmetrie?
Grob gesagt ist die Dynamische Symmetrie eine Methode zur harmonischen Aufteilung von Flächen, die von den alten Ägyptern schon eingesetzt und im alten Griechenland weiterentwickelt wurde. Das Wissen um diese Methode wurde in den Künstler-Ateliers Europas vom Meister an die Schüler weitergegeben und blieb so über die Jahrhunderte erhalten, auch wenn es “öffentlich” nicht bekannt war.
Eine wissenschaftliche Analyse und die schriftliche Veröffentlichung dieser Methode erfolgte Anfang des 20. Jahrhunderts durch den US-Künstler Jay Hambidge, der sich in seinen Arbeiten auch auf die natürlichen Flächen-Aufteilungen bei Pflanzen und Tieren bezog, zu denen es schon ältere wissenschaftliche Untersuchungen gab.
Für das alte Griechenland spielte die Geometrie eine große Rolle, hier vor allem die Suche nach dem göttlichen Prinzip hinter geometrischen und anderen mathematischen Gegebenheiten. Der Begriff der Dynamischen Symmetrie wurde von Hambidge deswegen gewählt, weil im alten Griechenland für das Phänomen der Ähnlichkeit geometrischer Strukturen der Begriff Symmetrie benutzt wurde. Die heutige sehr eingeschränkte Bedeutung kam erst später auf und wird von Hambidge als statische Symmetrie bezeichnet.
Das Prinzip der Ähnlichkeit (oder Symmetrie) wurde in Griechenland als göttliche Ordnung begriffen. Rechtecke, rechtwinklige Dreiecke, Diagonalen und ihre Umkehrungen sind alles Bausteine dieser Ordnung. Die Benutzung ordnender geometrischer Einheiten als Ausdruck eines göttlichen Systems - diese Sichtweise war auch den Künstlern späterer Epochen vertraut.
Wie das Beispiel Annie Leibovitz zeigt, gibt es auch in der heutigen Zeit Fotografen, die mit diesem alten Wissen bestens vertraut sind. Auch ganz Große der Fotogeschichte wie zum Beispiel Henri Cartier-Bresson, der Meister der Straßenfotografie. Hier ein Beispiel - ebenfalls analysiert von Tavis Leaf Glover:
Foto von Henri Cartier-Bresson analysiert von Tavis Leaf-Glover
Hier sehen wir die Nutzung der “barocken” oder positiven Diagonalen und ihrer Umkehrung. Der Fokuspunkt (das Buch) ist auf dem Schnittpunkt beider Linien angeordnet und wird von beiden Linien eingeschlossen. Der Körper lehnt an der Umkehrung der negativen (“sinister”) Diagonalen (auch Gegendiagonale genannt).
Auf die technischeren Aspekte der Dynamischen Symmetrie gehe ich in folgenden Beiträgen ein. Zunächst geht es einmal weiter mit der Gestalttheorie.
Was ist Gestalttheorie?
Ein Wort voraus: Ich bin kein Designer und habe auch keinerlei Ausbildung in diese Richtung genossen, ebensowenig wie eine künstlerische Ausbildung. Ausgebildete Designer können an dieser Stelle aufhören, zu lesen. Alles was folgt, ist einem Designer vermutlich mehr vertraut als mir.
Die Gesetze der Gestalt-Theorie helfen dabei, bewußt bestimmte Wirkungen hervorzurufen oder auch zu vermeiden. Sie beantworten Fragen wie:
- Wie kann ich das, was ich mit dem Bild zeigen will vermitteln?
- Wie lenke ich den Blick des Betrachters?
- Wie mache ich mein Bild interessant?
- Welche Emotionen kann ich vermitteln oder hervorrufen?
- Wie kann ich Spannung im Bild aufbauen?
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es erste Forschungen bezüglich der Wahrnehmung des Menschen. Zu nennen ist hier vor allem der Österreicher Christian von Ehrenfels, der den Gestalt-Begriff prägte. Dieser bezeichnet ein Ganzes, das andere und neue Eigenschaften hat als seine Bestandteile. Auch Transformationen übersteht dieses Ganze, bei denen alle seine Bestandteile ausgetauscht werden (Transponierbarkeit von Melodien). Es gab durchaus vorher schon Erkenntnisse in diese Richtung, zu nennen wären hier zum Beispiel Aristoteles “Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile” (Synergie) oder auch Friedrich Engels in Zusammenarbeit mit Karl Marx im “Anti Dühring” - Umschlag von Quantität in Qualität.
Ehrenfels definierte den Gestalt-Begriff aber nicht philosophisch, sondern in einem psychologischen Zusammenhang, der eng an die Wahrnehmungsprozesse des Menschen gekoppelt ist. Ursprünglich hieß die Gestalt-Theorie deswegen auch Gestalt-Psychologie - ich benutze lieber den Namen Gestalt-Theorie, um sie besser von der psychotherapeutischen Gestalt-Therapie abzugrenzen.
Ehrenfels' Arbeit wurde von der sogenannten “Berliner Schule” unter Carl Stumpf aufgegriffen. Als bedeutendster Vertreter kann wohl Max Wertheimer genannt werden, der sechs Gestaltgesetze formulierte. Die Forschungsarbeiten zur Gestalt-Theorie wurden von der Berliner Schule über die menschliche Wahrnehmung hinweg ausgedehnt und selbst heute wird auf diesem Gebiet noch geforscht.
Bezüglich der Bildgestaltung interessieren uns aber eher die Aspekte der Gestalt-Theorie die die optische Wahrnehmung betreffen.
Ein paar Beispiele:
Das Gesetz der guten Fortsetzung
Linien werden immer so gesehen, als folgten sie dem einfachsten Weg. Dabei werden auch unterbrochene oder irgendwie wechselnde Linien vom Gehirn “vervollständigt”.
“Untitled” von Zander Olson (Quelle: www.zanderolsen.com)
Klar erkennbarer Weg - trotz Unterbrechung durch den Baum.
Figur-Grund-Beziehung
Zitat aus Wikipedia:
Aus den vielen, unterschiedlichen Sinneseindrücken einer Situation, die gleichzeitig auf den Menschen einströmen, kann das Gehirn die Eindrücke ausfiltern, die es zu diesem Zeitpunkt als die Wichtigsten erachtet. Diese Eindrücke werden zum Vordergrund, zur „Figur“.
Sie werden bewusst und differenziert wahrgenommen und bilden das Zentrum der Aufmerksamkeit. Die übrigen Sinneseindrücke, die als unwichtig erkannt werden, treten in den Hintergrund und bilden den „Grund“.
Die beiden folgenden “Kipp-Bilder” sind ein Spiel mit der Figur-Grund-Beziehung,
bei dem Figur und Hintergrund für den Betrachter unter Umständen einfach wechseln.
Im Normalfall strebt man in einem Foto eine gute und klare Figur-Grund-Beziehung
an - so wie im Bild mit dem Hirsch. Dieser setzt sich klar als “Subjekt” des
Fotos vom Hintergrund ab.
Kipp-Figur
Peter and the Wolf - Phoebe Morris Illustration
Silhouette von Rick Nicholls
Gesetz der Nähe
Elemente mit geringen Abständen zueinander werden als zusammengehörig wahrgenommen.
Quelle: unbekannt
Gesetz der Ähnlichkeit
Einander ähnliche Elemente werden eher als zusammengehörig erlebt als einander unähnliche.
Im Bild von Rodney Smith werden durch die Schirme die Personen
zusammengehörig, auch wenn sie isoliert stehen und sich zum Teil
stark unterscheiden.
Die Schafe im nächsten Bild werden sofort als Herde wahrgenommen -
der Schäfer ist der Außenstehende.
Bild von Rodney Smith (www.rodneysmith.com)
Shepard and sheep | by Andrei Lintu
Gesetz der Geschlossenheit
Es werden bevorzugt Strukturen wahrgenommen, die eher geschlossen als offen wirken.
Das folgende Bild zeigt für die meisten Menschen einen Würfel - auch wenn er gar nicht dargestellt ist.
Ebenso wie im folgenden Bild das Dreieck - eine der grundlegendsten geometrischen Figuren:
Gesetz der guten Gestalt
Es werden bevorzugt Gestalten wahrgenommen, die in einer einprägsamen und einfachen Struktur (=„Gute Gestalt“) resultieren.
Hier ein sehr bekanntes Logo. Die Einzel-Elemente sind nichts sagend, in der Kombination werden sie jedoch vom Gehirn zu einem gehenden Mann zusammengesetzt.
Hier ein Film-Plakat, das die “Zwei” sehr gekonnt umsetzt:
Und zu guter letzt ein Gesicht aus Baumzweigen:
Literatur und Links
Die Links finden Sie jetzt im Überblicks-Artikel.